Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Stammbaum der Milchstraße entziffert


Auf diesem Bild sieht man zwei Spiralgalaxien, die irgendwann voraussichtlich komplett zu einer einzigen Galaxy verschmolzen sein werden. Die große Galaxien-Verschmelzung, die die Milchstraße vor 11 Milliarden Jahren erlebt hat, sah vermutlich so ähnlich wie auf diesem Bild aus. Der Raum zwischen den einzelnen Sternen in einer Galaxie ist jedoch so groß, dass dabei praktisch keine Sterne zuammenstoßen werden. Dieses Bild wurde mit dem "ESO-Spektrographen und der Kamera für schwache Objekte" (EFOSC2) am 3,6-Meter-Teleskop am La Silla-Observatorium der ESO in Chile aufgenommen. (Quelle: ESO)

Die Abbildung zeigt den Familienstammbaum der Milchstraße. Er wurde durch die Anwendung der Erkenntnisse aus den E-MOSAICS Simulationen auf galaktische Kugelsternhaufenpopulation abgeleitet. Der Hauptvorläufer der Milchstraße wird durch den Stamm des Baumes dargestellt, dessen Farbe die aufgesammelte stellare Masse symbolisiert. Schwarze Linien zeigen die fünf identifizierten Galaxien an. Graue gepunktete Linien veranschaulichen andere Fusionen, die die Milchstraße voraussichtlich erlebt hat, die jedoch nicht mit einem bestimmten Vorläufer verknüpft werden konnten. Von links nach rechts symbolisieren die sechs Bilder oben in der Abbildung die identifizierten Vorläufer-Galaxien: Schütze, Sequoia, Krake, der Hauptvorläufer der Milchstraße, der Vorläufer der sog. Helmi-Ströme, und Gaia-Enceladus. (Quelle: D. Kruijssen)

Wissenschaftler wissen zwar bereits seit einiger Zeit, dass Galaxien durch die Verschmelzung mit kleineren Galaxien wachsen können, aber die Abstammung unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße, war seit langem noch ein Rätsel. Jetzt hat jedoch ein internationales Team von Astrophysikern den ersten vollständigen Stammbaum unserer Heimatgalaxie rekonstruiert. Dies gelang, indem die Eigenschaften von Kugelhaufen der Milchstraße mit künstlicher Intelligenz analysiert wurden. Die Arbeit wird in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society veröffentlicht.

Kugelsternhaufen sind dichte Gruppen von bis zu einer Million Sternen, die beinahe so alt sind wie das Universum selbst. Die Milchstraße beherbergt mehr als 150 davon, von denen viele aus Galaxien stammen, die einst mit unserer Heimatgalaxie verschmolzen. Astronomen vermuten seit Jahrzehnten, dass sich Kugelsternhaufen aufgrund ihres Alters dazu eignen, diese frühen Entwicklungsgeschichte von Galaxien zu rekonstruieren. Erst mit Hilfe neuester Computersimulationen und modernsten Beobachtungen ist es endlich möglich geworden, diese Vermutung zu überprüfen.

Dem Forscherteam um Dr. Diederik Kruijssen am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH) und Dr. Joel Pfeffer von der Liverpool John Moores University ist es nun gelungen, die Familiengeschichte der Milchstraße nachzuvollziehen und ihren Familienstammbaum allein anhand ihrer Kugelsternhaufen zu rekonstruieren. Um dies zu erreichen, entwickelten sie eine Reihe fortschrittlicher Computersimulationen zur Entstehung von Milchstraßen-ähnlichen Galaxien. Ihre Simulationen, E-MOSAICS genannt, sind einzigartig, denn sie enthalten ein komplettes Modell für die Bildung, Evolution und Zerstörung von Kugelsternhaufen. In den Simulationen konnten die Forscher das Alter, die chemische Zusammensetzung und Orbitalbewegung von Kugelsternhaufen mit den Eigenschaften der Vorläufergalaxien in Beziehung setzen, in denen sie sich vor mehr als 10 Milliarden Jahren gebildet haben. Indem sie diese Ergebnisse auf spezielle Gruppen von Kugelsternhaufen in der Milchstraße anwendeten, konnten sie nicht nur bestimmen, wie viele Sterne die Vorläufergalaxien dieser Kugelsternhaufen enthielten, sondern auch, wann sie mit der Milchstraße verschmolzen sind.

"Die größte Herausforderung, nämlich die Eigenschaften von Kugelsternhaufen mit der Familiengeschichte ihrer Galaxie zu verbinden, war immer die Tatsache, dass dieses Verschmelzen ein extrem chaotischer Prozess ist, bei dem die Umlaufbahnen der Kugelsternhaufen vollständig neu gemischt werden?, erklärt Dr. Kruijssen.   ?Um das für das komplexe System zu realisieren, dass wir heute in der Milchstraße vorfinden, haben wir uns für den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) entschieden. Wir haben ein künstliches neuronales Netzwerk mit den Ergebnissen aus den E-MOSAICS-Simulationen trainiert, um die Eigenschaften der simulierten Kugelsternhaufen mit der Verschmelzungsgeschichte ihrer Heimatgalaxie in Beziehung zu setzen. Wir haben den Algorithmus zehntausende Mal mit den Simulationen getestet und waren erstaunt, wie genau die KI in der Lage war, die Verschmelzungsgeschichten der simulierten Galaxien nur anhand ihrer Population von Kugelsternhaufen zu rekonstruieren."

Ermutigt von diesem Erfolg machten sich die Forscher daran, unsere Heimatgalaxie konkret auf ihre Familiengeschichte zu untersuchen. Hierzu ließen sie das zuvor trainierte neuronale Netzwerk bekannte Gruppen von Kugelsternhaufen analysieren, von denen aufgrund ihrer Orbitalbewegung angenommen wird, dass sie aus derselben Vorläufergalaxie stammen. Dadurch gelang es den Forscherinnen und Forschern nicht nur, die stellaren Massen und Verschmelzungszeiten der Vorläufergalaxien mit hoher Präzision vorhersagen, sondern auch eine bisher unbekannte Kollision zwischen der Milchstraße und einer unbekannten Galaxie zu entdecken, die sie auf den Namen "Kraken-Galaxie" getauft haben.

"Die Kollision mit der Kraken-Galaxie muss das bedeutendste Ereignis gewesen sein, das die Milchstraße je erlebt hat", fügt Dr. Kruijssen hinzu. "Zuvor dachte man, dass der Zusammenstoß mit der Gaia-Enceladus-Galaxie, der vor etwa neun Milliarden Jahren stattfand, das größte Kollisionsereignis war. Das Verschmelzen mit der Kraken-Galaxie fand jedoch vor 11 Milliarden Jahren zu einem Zeitpunkt statt, als die Milchstraße viermal weniger Masse als heute besaß. Infolgedessen muss dieses Ereignis das Aussehen der Milchstraße nachhaltig verändert haben."

Die neuen Ergebnisse ermöglichten es dem Forscherteam damit, den ersten vollständigen Familienstammbaum unserer Galaxie zu rekonstruieren. Im Laufe ihrer Geschichte muss die Milchstraße demnach mit fünf Galaxien mit mehr als 100 Millionen Sternen und etwa 15 Galaxien mit 10 Millionen Sternen vereinigt haben. Die massereichsten Vorläufergalaxien kollidierten vor 6 bis 11 Milliarden Jahren mit der Milchstraße. Das Forscherteam erwartet, dass ihre Vorhersagen zukünftige Studien stimulieren werden, um nach anderen Überresten dieser Vorläufergalaxien zu suchen. "Die Überreste von mehr als fünf Vorläufergalaxien wurde nun identifiziert. Mit aktuellen und kommenden Teleskopen sollte es möglich sein, sie alle zu finden", resümiert Dr.  Kruijssen.


Originale Veröffentlichung

J.M.D. Kruijssen, J.L. Pfeffer, M. Chevance, A. Bonaca, S. Trujillo-Gomez, N. Bastian, M. Reina-Campos, R.A. Crain, M.E. Hughes: Kraken enthüllt sich - die Fusionsgeschichte der Milchstraße rekonstruiert mit den E-MOSAICS Simulationen, 2020, MNRAS 498, 2472-2491,  doi: 10.1093/mnras/staa2452, arxiv.org/abs/2003.01119


Kontakt für die Medien
Dr. Guido Thimm
Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH)
thimm@ari.uni-heidelberg.de


Wissenschaftlicher Kontakt
Dr Diederik Kruijssen
Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg (ZAH)
Astronomisches Rechen-Institut (ARI)
kruijssen@uni-heidelberg.de


Links
Homepage Kruijssen - http://wwwstaff.ari.uni-heidelberg.de/kruijssen/News/News.htmlHomepage
MUSTANG group - http://wwwstaff.ari.uni-heidelberg.de/MUSTANG/Home.html


Animation
Film einer der E-MOSAICS-Simulationen, die die Bildung einer milchstraßenähnlichen Galaxie zeigt. Die graue Schattierung zeigt, wie Gas fragmentiert, Sterne bildet und auf die Zentralgalaxie fällt. Neugeborene Sterne blasen mit ihrer intensiven Strahlung und Supernova-Explosionen Blasen ins Gas. Die Kugelsternhaufen werden durch farbige Punkte angezeigt, wobei die Farbe die chemische Zusammensetzung angibt (blaue Kugelsternhaufen weisen einen geringen Anteil an Elementen schwerer als Helium auf, während rote Kugelsternhaufen einen hohen Anteil an solchen Elementen aufweisen). Im Laufe der Zeit führt die Verschmelzung der Zentralgalaxie mit kleineren Satellitengalaxien zu einer großen Anzahl von Kugelhaufen. Das Alter, die chemische Zusammensetzung und die Umlaufbahnen dieser Sternhaufen zeigen die Masse der Vorläufer-Galaxie, in der sie sich ursprünglich gebildet haben, sowie den Zeitpunkt, zu dem sie mit der Zentralgalaxie verschmolzen ist. Diese Zusammenhänge ermöglichten die Entschlüsselung des Stammbaums der Milchstraße. (Quelle: J. Pfeffer, D. Kruijssen, R. Crain, N. Bastian)

zum Seitenanfang/up